Dies ist ein Bericht von Jan Menke, der im Dezember 2017 für Avicenna im Kutupalong-Flüchtlingscamp war und wir sagen an dieser Stelle Danke, lieber Jan, für deinen großartigen Einsatz vor Ort.

Erst wenn man einen der Hügel über die notdürftig in den Staub geschlagenen Stufen erklimmt, beginnt man das Ausmaß der Katastrophe zu begreifen. Unter einem breitet sich das Kutupalong-Flüchtlingscamp aus, das inzwischen mit dem benachbarten Balukhali-Lager zusammengewachsen ist. Beide Camps beherbergen gemeinsam mehr als 600 000 Menschen.

Bis zum Horizont reihen sich Hütten, Zelte und Latrinen aneinander. Fahnen wehen im Wind, die die Standorte der Krankenhäuser und Verteilungsstellen für Nahrungsmittel, Decken und Kleidung markieren. Ähnlich wie bei einem Ameisenhaufen schlängeln sich die Menschen die Trampelpfade entlang – beladen mit Nahrungspaketen, Bambusstangen, Wasserkanistern oder Werkzeug. Vereinzelt entdeckt man auch Drachen, die in der Luft tanzen und an dessen Leinen rufende Kinder ziehen.

Doch die wahren Tragödien sieht man nicht – man hört sie. Oben auf den Hügeln vereinigen sich plötzlich die Geräusche des Camps – das Rufen der Kinder, Schritte und Gespräche, Hämmern und Sägen – zu einem Schwall aus Gewimmer und Wehklagen. Je nach Windrichtung ebbt das Klagen ab oder schwillt an, doch entziehen kann man sich ihm nicht. Das Jammern ist anonym, die weinenden Menschen zeigen sich nicht auf den Pfaden der Täler. Oben auf den Hügeln wird mir klar, dass ich keine Vorstellung habe von dem Leid, das sich hinter den Planenwänden der Bambushütten abspielen muss. Und das obwohl ich mitten in Kutupalong stehe.

Eineinhalb Wochen besuchte ich das Camp täglich. An die Eindrücke gewöhnte ich mich trotzdem nie. Zum Glück gab es viel zu organisieren. Sich in die Arbeit zu stürzen, fühlte sich wie eine Erleichterung an. Ich glaube, der Tunnelblick auf meine Aufgabe hielt die Eindrücke der Not und Verzweiflung von meinem Innersten fern. Mich auf das Projekt zu konzentrieren bewahrte mich davor, vor dem Gefühl der Ohnmacht zu kapitulieren.

Dank Eurer Spenden konnten wir in Kutupalong ein kleines Avicenna-Viertel bauen. An drei benachbarten Hängen haben wir 31 Familien ein Dach über dem Kopf gegeben. Anstatt in notdürftig geflickten und überfüllten Zelten, die weder vor Wind noch vor Regen schützen und so aussehen, als rutschten sie jeden Moment vom Hang ins Tal, richten sich die Familien nun in halbwegs soliden Bambushütten ein.

Wir wünschen ihnen, dass sie dort auch etwas Ruhe und Privatsphäre finden. Trotz des – von Menschenrechtlern vehement kritisierten – Rückführungsabkommens zwischen Bangladesch und Myanmar weiß niemand, wie lange die Rohingya noch in den Lagern leben werden. Umso wichtiger erscheint es mir, ihnen ein Heim zu bieten, das als Lebensmittelpunkt für eine Familie halbwegs taugt.

Ich besuchte die neuen Bewohner in ihren Hütten. Sie schlafen auf Tüchern auf dem Boden. Möbel gibt es keine, nur ein paar Töpfe und wenig Kleidung, die zum Trocknen über Bambusstreben oder Kordel hängt. Bewundernswert kreativ bastelte ein Vater ein Gefährt aus Plastikmüll. Am nächsten Tag sah ich den Sohn mit dem Spielzeug an einer Kordel den Hang hoch- und runterrennen. Vor den Hütten, die als erstes bezugsfertig wurden, haben die Bewohner ein Gemüsebeet angelegt. Es sieht gekonnt bepflanzt und sehr ordentlich gepflegt aus. Das hat mich gefreut und sogar ein bisschen stolz gemacht; bilde ich mir doch ein, dass wir mit dem Hüttenbau etwas dazu beigetragen haben, dass die Geschäftigkeit und die Lebensenergie dieser Menschen nicht verwelken.

Einmal, als ich unsere „Baustelle“ besuchte, sah ich einen Jungen am gegenüberliegenden Hang, dem seine Hacke bis zur Schulter reichte. Trotzdem schwang er die Hacke mit einiger Routine über dem Kopf, bevor er sie in den Boden schlug. Der Junge mag fünf oder sechs Jahre alt gewesen sein. Ich schaute ihm aus der Entfernung zu, wie er allein den Boden des Abhangs bearbeitete. Auf dem Gefälle standen keine Hütten, sondern zwischen Sträuchern nur einzelne Latrinen.

Latrinen bestehen in dieser Gegend des Camps aus einem Loch in der Erde, vier senkrecht in den Boden gesteckten Bambusstöcken und notdürftig am Bambus befestigten Planen. Kleine Rinnsale sollen die Fäkalien den Abhang hinunterleiten. Wenn der Wind drehte, wehte er den Gestank zu mir herüber. Ich habe im Camp mehrere Kinder gesehen, als sie ihre Notdurft verrichteten. Was ich sah, hörte und roch, ließ nicht auf eine gesunde Verdauung schließen.

Dort, wo der Junge sich mühte eine Terrasse in den Hang zu schlagen, muss der Gestank einem dem Atem genommen haben. Doch der Junge ließ sich nichts anmerken. Seine Hiebe mit der Hacke erfolgten regelmäßig und mit der Geduld eines Erwachsenen. Sein Anblick rührte mich, eben weil er allein war.

Im Camp sieht man sonst alles in großer Zahl: Armut in Massen, Hunger im Kollektiv, Gedränge und Schlangen bei der Essenausgabe und überfüllte Hütten und Zelte. Die Dimension der humanitären Katastrophe macht einen blind für Einzelschicksale. Doch dieser Junge war allein. Er ist ein Kind, sein Körper klein und zart, doch er verrichtete seine Arbeit mit der Disziplin eines Arbeiters. Ich fragte mich: Was muss der Junge erlebt haben, dass er seine Aufgabe derart erträgt?

Gerade als ich auf meinem Hügel darüber sinnierte, wie die Flucht und das Leben im Lager diesen Jungen zwangen, zum Mann zu werden, hielt er inne. Er ließ die Hacke fallen, sprang in die Luft und quietschte vor Begeisterung. Zwei Mädchen bedienten etwas weiter unten am Hügel eine Wasserpumpe. Der Junge rannte den Hang entlang, hopste in die Pfütze im Becken um die Pumpe und planschte mit den Mädchen. Mich hat es erleichtert, dass seine kindliche Unbekümmertheit selbst in diesen Umständen überlebt hat.

Auch wir haben mit Eurem Spendengeld vier Wasserpumpen gebaut. Die Rohre zapfen das Grundwasser in circa 20 Meter Tiefe an und pumpen es in die Eimer und Schalen der Camp-Bewohner. Als ich Kutupalong besuchte, war Trockenzeit im Süden von Bangladesch. Einerseits hilft die Hitze gegen den Gestank. Die Fäkalien trocknen schneller, das abgestandene und verdreckte Wasser in den Lachen und Teichen in den Schluchten verdunstet fast vollständig, die Mückenplage ist weniger nervig und es lebt sich angenehmer in Staub und Hitze als in Schlamm, Kälte und Nässe.

30 Grad im Schatten am Mittag sorgen aber natürlicherweise für einen hohen Wasserbedarf. Die Bewohner können das Grundwasser unserer Brunnen bedenkenlos trinken und bewässern ihre kleinen Gemüsebeete. Man sollte auch nicht unterschätzen, was es bedeutet, sich waschen zu können. Ein gewisses Maß an Hygiene verhindert den Ausbruch von Epidemien in der Enge des Lagers. Außerdem kann jeder nachvollziehen, dass einem das Gefühl, sauber zu sein, etwas Würde und Selbstwertgefühl verleiht.

Wir teilten auch Essenspakete für 300 Familien aus. In einem Paket befanden sich zehn Kilo Reis, drei Kilo Kartoffeln, ein Kilo Zwiebeln, ein Kilo Salz, ein Kilo Zucker, ein Kilo Linsen, ein Liter Öl und 100 Gramm rote Chili. Das reicht für eine durchschnittliche Familie im Camp für fünf Tage oder eine Woche.

Das Militär half uns bei der Ausgabe. Mit unserem LKW fuhren wir zum Armee-Checkpoint, ließen uns dort registrieren und eine Ausgabestelle im Camp zuteilen. Ein Soldat begleitete uns im LKW, an der Ausgabestelle erwarteten uns weitere Soldaten. Flüchtlinge entluden die Ladefläche und verdienten sich so einen kleinen Lohn.

Die Rohingya organisieren sich im Camp weitgehend selbst. Ein „Ältester“ oder „Clanführer“ steht ungefähr 100 Familien vor. Er ist das Bindeglied zwischen Armee und Flüchtlingen. Der Clanführer sorgt dafür, dass sich die Flüchtlinge registrieren, vermittelt in Konflikten zwischen Familien und gibt an die Armee weiter, wenn es Engpässe bei Behausung, Medizin oder Nahrung gibt. Das Militär dokumentierte jeden Empfänger eines unserer Pakete, um auf Dauer eine faire Verteilung zu gewährleisten. Um Konflikte zu vermeiden, geben die Soldaten vorher Marken aus. Nur wer eine Marke vorzeigen kann, wird zur Verteilungsstelle vorgelassen.

Wie schnell Unordnung in Nervosität, dann in Hektik und schließlich in Aggressivität umschlagen kann, sah ich bei einer Kleidungsausgabe. Ohne sichtbaren Grund wurden die anstehenden Menschen immer unruhiger. Die Soldaten versuchten sofort, die Menge zu ordnen und zu beschwichtigen, doch die Dynamik ließ sich nicht mehr stoppen. Am Ende mussten einzelne Gruppen, die sich auf den Kleiderberg stürzten, mit Stöcken auseinandergetrieben werden. Die Armee hatte die Situation nach wenigen Minuten wieder im Griff und niemand wurde verletzt, doch ich war froh, die Sicherheit bei unserer Verteilung nicht selbst organisieren zu müssen. Bei uns verlief die Ausgabe komplett problemlos und friedlich.

Wer erfährt, wie sich die Flüchtlinge bemühen, trotz Sprach- und Kulturbarriere ‚Danke‘ zu sagen, wenn sie die Essenspakete entgegennehmen; wer sieht, wie sich Eltern mit ihren Kindern in den Becken der Wasserpumpen waschen und anschließend einige Karaffen mit Wasser mitnehmen; wer verfolgt, wie sich die Familien in ihren neuen Hütten einrichten und so etwas Geborgenheit und Geschäftigkeit zurückerlangen; der weiß: Hilfe macht einen Unterschied.

Eure Spenden machen einen Unterschied: für 31 Familien, die nun eine eigene Hütte bewohnen können, für 300 Familien, die für eine knappe Woche halbwegs ausgewogen und gesund kochen konnten und für unzählige Camp-Bewohner, die nun Wasser zum Waschen, Kochen und Trinken haben. Im Namen all dieser Menschen, im Namen von Avicenna und von mir ganz persönlich sage ich allen Spendern und Unterstützern: DANKE.