Jahresrückblick – Jahresausblick
Wir sitzen in Çesme mit einer Tasse Tee im Wintergarten derselben Pension, von der aus wir vor einem Jahr jeden Morgen zum Schmugglercamp gefahren sind. Das gibt es schon lange nicht mehr, auch wenn noch vereinzelt Menschen für etwa ein Drittel des Geldes die Überfahrt nach Chios und damit Europa versuchen. Am letzten Tag unseres jetzigen Aufenthaltes in der Westtürkei schauen wir auf das Meer und am Horizont auf Chios und die Erinnerungen an das vergangene Jahr tauchen vor unseren Augen auf.
Ein Jahr ist vergangen, seit wir das erste Mal in Torbali syrischen Flüchtlingen begegnet sind. Damals war es erst ein Schuppen mit Plastikfolien für etwa zwanzig Familien abgetrennt. Dann erfuhren wir von zwei weiteren großen Camps mit zusammen etwa 1.500 Menschen, die dort auf dem Gelände einheimischer Bauern lebten und arbeiteten. Inzwischen sind es etwa 45 Camps in der Umgebung von Torbali, in denen überwiegend syrische Bauern noch immer auf die einfachste Weise leben.
Jetzt im Winter haben sie Arbeit auf den Orangenplantagen, dadurch leiden sie zurzeit offensichtlich nicht an Unterernährung. Wo immer wir zum arbeiten hinkommen, werden wir erstmal zu Fladenbrot und Tee eingeladen. Aber die Kinder laufen trotz Temperaturen um 0 Grad oft immer noch barfuss oder ohne Socken in Plastiksandalen und nur mit einem dünnen Pulli bekleidet herum. Entsprechend sind sie alle erkältet und die Eltern haben von der Arbeit fast alle Rücken- und Gelenkschmerzen.
Die meisten Familien haben inzwischen ein eigenes Zelt, das aus einer großen Plastikplane und einem meist selbst zusammengezimmerten Holzgerüst besteht. Auch einen kleinen Holzofen zum heizen und kochen haben die meisten. Aber nur wenige Camps haben fließendes Wasser und fast kein Camp hat eine Toilette oder gar eine Duschmöglichkeit.
Viele der Menschen haben sich zwar offiziell registriert und haben theoretisch einen Anspruch auf eine medizinische Versorgung, aber um im Krankenhaus verstanden zu werden, müssten sie einen Tageslohn für einen Übersetzer investieren und das mehrfach, bis sie irgendwann eine Untersuchung oder Behandlung bekommen. Entsprechend dankbar sind sie für unsere medizinische Betreuung. Viele sind jedoch, auf Grund ihres Nomadendaseins, das den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes folgt, woanders registriert und haben keinen Anspruch auf Ärzte oder Medikamente und eine erneute Registrierung erfordert viele Anläufe in Izmir, sodass sie es inzwischen aufgegeben haben. Alle werden sie hier nur geduldet, ohne Anspruch darauf, bleiben zu dürfen. Das Angebot der Regierung, zurück in die offiziellen Camps in der Osttürkei zu gehen, nehmen sie trotzdem nicht an.
Theoretisch dürften die Kinder auch eine türkische Schule besuchen, aber es gibt keine Einführungskurse in die türkische Sprache oder jemanden, der den Transport übernimmt. Auch könnten die älteren Kinder sowieso nicht zur Schule, da sie bei den Kleineren bleiben müssen, damit die Eltern arbeiten gehen können. Gestern Morgen noch, saß ich neben Ali, einem zwölfjährigen, aufgewecktem Jungen, der strahlte, als ich ihm beibrachte, seinen Namen zu schreiben und mit Hilfe seiner Finger bis zehn zu addieren. Am gleichen Abend trafen wir einen Lehrer, der auch in den Camps lebt und im Besitz eines Mopeds ist. Wir vereinbarten mit ihm, dass er für den Lohn, den er sonst auf den Feldern bekäme, die Kinder unterrichtet. Mit Ali, von der Hilfsorganisation Imeçe aus Çesme, mit der wir vor einem Jahr die Flüchtlinge im Schmugglercamp unterstützt hatten, planen wir jetzt die Einrichtung von Schulzelten in allen größeren Camps und die Anstellung weiterer Lehrer.
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