In 45 Sekunden, die niemand der dabei war, jemals vergessen wird, wurden Tausende unter den Trümmern ihrer Häuser begraben, Hunderttausende verletzt und Millionen wurden obdachlos. Jahre der Arbeit waren zerstört. Drei Tage habe es gedauert, bis die erste Hilfe kam. Wie die Menschen mit dem Trauma und der Zerstörung zurecht kommen? Sie schütteln traurig den Kopf und lachen auf meine Frage nach psychotherapeutischer Betreuung oder Versicherungen.
Er kommt aus Küpelikiz, einem Dorf in der Nähe, in dem wir gleich zum Essen eingeladen sind, weil wir für sie Container und Duschkabinen gekauft haben. Herzliches Beileid wünschen wir dort jedem einzelnen bei der Begrüßung. Jeder hat Angehörige verloren, zum Teil nach Stunden vergeblicher Mühen sie frei zu graben. Und viele waren selbst verschüttet. Es sind, wie auch die meisten Menschen in Pazarcik, kurdische Alawiten. Zwei Massaker durch die Sunniten haben die Erwachsenen überlebt, zuletzt 1978. „ Sie haben schon gegessen“, sagen die Frauen. Aber nach dem Essen sehen wir, wie sie die Reste im Küchenzelt essen, eine von ihnen mit zerbrochenem Brillenglas seit dem Erdbeben. Am nächsten Morgen wollte der Optiker kein Geld für die neue Brille, die wir ihr besorgen wollen.
Vor dem Beben habe er 16 Stunden am Tag gearbeitet, sagen die Nachbarn. Seit dem Beben sitzt der Neunzigjährige nur noch schweigend hinter seinem inzwischen weggeräumten Haus, vor seinem zerstörten Traktor und weint. Alle landwirtschaftlichen Maschinen im Dorf seien zerstört. Es gibt wohl keine Ernte dieses Jahr.
Überall sieht man Container, einzeln oder in Siedlungen, aber auch viele Zeltsiedlungen. Die Menschen in den Zelten warten darauf auch Container zu bekommen. Sie bekommen zu Essen und die Kinder hatten zumindest bis vor dem Sturm eine Zeltschule. Der Sturm vor 14 Tagen hat nicht nur viele Zeltlager, sondern auch viele der, oft auch selbst gekauften, Container zerstört. Auf unsere Frage, wie sie es in den Containern bei 40° im Sommer aushalten wollen, wissen sie auch keine Antwort. Und es gibt meist weit und breit keinen Schatten in den Siedlungen. Immerhin hätten sie dann ein Gefühl von einem Zuhause und eine eigene Toilette. Auf unsere Frage, was sie jetzt besonders brauchen, erfahren wir Unterwäsche. Wir kaufen immer wieder soviel wir bekommen können und verteilen es mit Hilfe unserer Freundin Fulya vom WDR Cosmo, die uns begleitet sowie unserer neuen, türkischen Freunde aus Köln. Sie kommen auch ursprünglich aus Küpelikiz. Sie fahren uns und wir wohnen bei ihren Verwandten. Ein Leben lang haben sie in Deutschland für ihren Lebensabend in Heimatdorf gespart und jetzt liegt alles in Trümmern. Was uns am meisten erstaunt, wie auch in den vielen anderen Flüchtlingsunterkünften, die wir vor Corona regelmäßig besuchten, ist die Würde, mit der sie ihr Schicksal ertragen. Doch wenn sie erfahren, dass wir Ärzte sind stehen alle Schlange. Gemeinsam suchen wir auch die syrischen Zeltlager auf, die bei Verteilungen zuletzt dran sind. Die meisten dort haben viele Jahre schon in verschiedenen Zeltlagern gelebt, bevor sie endlich in der Stadt eine Wohnung bekommen hatten.
Rehabilitationszentrum von Tiafi in Gaziantep
Heute haben wir die Rehabilitationsklinik von Tiafi in Gaziantep besichtigt. Hier sollen demnächst täglich 50 behinderte Kinder kostenlos mit Prothesen versorgt und physiotherapeutisch betreut werden. Es sind viele Tausend Kinder und Jugendliche, die durch das Erdbeben oder auch schon früher durch den Krieg oder durch andere Krankheiten behindert sind und oft eine prothetische Versorgung brauchen. Mit anderen Organisationen ist besprochen, dass der Transport aus der ganzen Umgebung der Region getragen wird. Die Regierung hat versprochen die Kosten für die Prothesen zu übernehmen. Ein großen Teil der Einrichtungskosten hatte Avicenna schon übernommen und die Miete ist bereits für ein Jahr im Voraus bezahlt. Die laufenden Kosten sollen dadurch getragen werden, dass die Klinik nach 16:00 Uhr für private Patienten genutzt wird.
Die am meisten zerstörte Stadt Hatay
In Hatay lebten Christen, Juden, Armenier, Alawiten, Schiiten, Sunniten, Kurden, Türken und Araber friedlich zusammen. Vor dem Erdbeben gab es noch viele, gut erhaltene alte Bauten aus der Übergangszeit von der osmanischen Zeit zur Republik. Jetzt erscheint uns das Stadtbild wie ein postapokalyptisches Inferno. Immerhin sind weiten Teils die Trümmer bereits entfernt worden. Über 200.000 Tote werden allein in dieser Stadt beklagt behaupten die Einwohner. Aber das Leben geht weiter. Die ersten Geschäfte laufen bereits zwischen den Trümmern.
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Unsere syrischen Freunde in Reyhanli
Wir besuchen unseren syrischen Freund und seine Familie in Reyhanli. Jahrelang hat er uns bei unserer Arbeit in den syrischen Zeltlagern geholfen. Seit einer Woche hat er hier eine Wohnung gemietet, mit Blick auf die 300 km lange 5 m hohe Mauer, die sie von ihrer Heimat Syrien trennt. Nachts um 4 war er in seiner endlich fertig bezahlten Wohnung in Kirikhan aufgestanden, um zur Arbeit zu fahren und hat ein leichtes Beben bemerkt. Er konnte gerade noch sich, seine Familie mit seinen vier kleinen Töchtern und einige Nachbarn aus dem zusammen stürzenden Haus retten. Zig Tausende starben direkt oder in den ersten vier Tagen, bis endlich die erste Hilfe ankam, unter den Trümmern. einschließlich der gesamten Familie seiner Frau. Alleine und ohne Werkzeug haben sie versucht, den noch lebenden Bruder aus den Trümmern zu ziehen, vergeblich. Drei Wochen schliefen 20 Kinder in seinem kleinen Bus, die anderen bei Kälte und Regen im Freien, anfangs ohne Wasser oder Essen. Jeder Bekannte, den er in der Umgebung anrief, berichtete Ähnliches. Aber sie haben es geschafft, dass die Kinder noch lachen können und er und seine hochschwangere Frau uns alle liebevoll bewirten können.
Die Situation der Flüchtlinge
Etwa zehn Millionen Flüchtlinge leben in der Türkei, knapp die Hälfte Syrer, die andere Hälfte Afghanen. Jede Nacht kommen ca.800 Afghaner über die iranische Grenze dazu und immer wieder werden sie auch wieder zurück geschickt, zum Teil direkt an die Schmuggler, die erneut Geld von beiden Seiten Geld kassieren. Oft werden sie gezwungen Drogen mitzunehmen. Wenn sie dabei erwischt werden, werden sie oft ohne Kleider, im Winter bei Schnee und Kälte wieder drüben abgesetzt. Oft werden die Angehörigen gezwungen, mehr Geld zuschicken, damit sie nicht an die Organmafia verkauft werden. Und vielen fehlt das Geld und ihre Körper werden ausgeraubt. Diejenigen, die es schaffen, leben zum größten Teil in den Slums der Großstädte ohne offizielle Hilfe und ohne Aufenthaltsrecht. Immerhin dürfen die afghanischen Kinder noch zur Schule, solange sie noch nicht zurück geschickt worden sind. Die syrischen Flüchtlinge leben zum großen Teil auch in Lagern. In ihren inoffiziellen Camps in der Ost- und Westtürkei waren wir regelmäßig vor Corona. Unsere Schule dort ist die Einzige und hat auch Corona überlebt. Viele haben es aber auch geschafft sich irgendwie zu etablieren. Durch das Beben haben Tausende ihre endlich bezogenen Wohnungen wieder verloren. Tausende von ihnen werden nach Izmir geschickt. Dort finanzieren wir seit Beginn des Erdbebens Nahrungsmittel- und Hilfsgüterverteilungen über Tiafi. Für die verbliebenen, so wie für die Ärmsten der kurdischen Türken konnten wir in der syrischen und iranischen Grenzregion Lebensmittel und Lebensmittelkarten verteilen. Überall fanden wir dabei Hilfe durch selbst Betroffene und Einheimische und werden auch über manche von ihnen unsere Hilfe fortsetzen können.
Was brauchen die Menschen am meisten ?
Krisen sind kurzlebig, zumindest in den Medien und damit in unserem Bewusstsein, nicht aber für die Betroffenen. Wir akzeptieren das, da wir ja nicht allen helfen können und beschränken unserer Mitleid und unsere Spenden auf die gerade am grausamsten Betroffenen. Einzelne Hilfsorganisation denken weiter und helfen auch beim Aufbau mit. So sind vereinzelte Containerdörfer geplant, Patenschaften mit Dörfern anvisiert und verschiedene asiatische und europäische Organisationen helfen wohl auch weiter. Außer der Klinik für durch das Beben oder den Krieg amputierte Kinder in Gaziantep unterstützen wir weiter die in Izmir ankommenden Flüchtlinge (siehe Blog Tiafi) Gesehen haben wir keinen einzigen, ausländischen Helfer gesehen und nur die wenigen einheimischen, die regelmäßig Essen verteilen. Die Ärmeren bekommen eine kleine finanzielle Unterstützung und unvorstellbar viele müssen demnächst sehen, wie sie ihre Leben aus dem Nichtswieder aufbauen oder den Sommer bei über 40 Grad ohne Schatten weit und breit in den Containern überstehen.
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