Jan’s Avicenna-Bericht von seinem Einsatz in Jordanien

Nachher saßen wir alle entspannt bei einem Tee vor dem Zelt der Camp-Chefin. Die Nachmittagssonne stand schon tief am Himmel, sodass sie sich nicht mehr brennend heiß, sondern angenehm warm anfühlte. Auf ein paar Plastikstühlen, auf Kisten oder auf dem Boden hatten die Beteiligten Platz genommen.
Die Camp-Chefin, Abu Mudira genannt, versuchte im Scherz Serena mit einem ihrer Söhne zu verheiraten. Serena kommt aus Venedig, engagiert sich für Flüchtlinge seit sie vor ein paar Jahren in Rente ging und packte bei unserem Projekt mit an. Unseren Dolmetscher Mohammed unterbrachen seine Lachanfälle, aber pflichtschuldig übersetzte er auch die peinlichsten Fragen zu Mitgift, praktischen Herausforderungen der Polygamie und dem Leben im Zelt.
Daneben unterhielten sich Gaia, eine weitere fleißige Helferin aus Italien, und ein paar Lagerbewohner über die Qualität der Schafe, die wir gespendet hatten. Der jordanische Schafzüchter, der die Tiere mit seinem Pick-up persönlich zum Camp fuhr, hörte aufmerksam zu; wahrscheinlich um einzugreifen, sollte jemand seine Schafe kritisieren. Er entspannte sich, als er die allgemeine Zufriedenheit wahrnahm.

Mich freute die gelöste Stimmung genauso und ich wendete mich wieder der Unterhaltung mit Hassan zu. Hassan gehört zu einer einflussreichen Familie im und um Al-Mafraq im Norden Jordaniens. Wer Hilfe leisten möchte, kommt um Absprachen mit den Bani Khalids nicht herum. Sein Clan tritt eher wie ein innovativer Dienstleister für Hilfsorganisationen auf, als sich wie eine Mafia zu gebärden. Er handelte uns Preise auf Großmärkten aus, zu denen wir allein niemals hätten einkaufen können. Zur Kontrolle holten wir öfters selbst gefeilschte Angebote ein. Dazu hielt er die Ansprüche der jordanischen Großgrundbesitzer von uns fern, auf deren Land die Flüchtlinge campieren. Einmal fischte er einen „Spion“ zwischen den Pfirsichbäumen der Plantage hervor, der unsere Lebensmittelausgabe mit dem Handy filmte. Auch ohne Arabisch zu sprechen, verstand ich, dass Hassan keinen Zweifel daran ließ, dass besser alle Pakete wirklich bei den Flüchtlingen bleiben – auch wenn wir nicht mehr da sind. Nachdem das geklärt war, trank der „Spion“ mit uns Tee – und schien durchaus glücklich dabei zu sein.

Am Rande unserer nachmittäglichen Teerunde hob Alessandro Mädchen aus dem Camp in die Luft und drehte Pirouetten, bis ihm der Schweiß von der Stirn perlte. Alessandro möchte ich hier besonders danken, auch wenn er kein Deutsch versteht. Er arbeitete für Caritas im Norden Jordaniens und hat seinen Urlaub damit verbracht, Avicenna rund um die Uhr zu unterstützen. Ohne seine Ortskenntnis, sein Arabisch, seine Kontakte und seinen unermüdlichen Einsatz hätte ich niemals Hilfsgüterausgaben in drei verschiedenen Camps, die Renovierung der Toiletten in einer Schule für Geflüchtete und die Versorgung der syrischen Familien in den Armenvierteln Ammans organisieren können.

 

Soforthilfe für die Camp-Bewohner an der syrischen Grenze

Im Norden Jordaniens arbeiten viele Hilfsorganisationen, doch fast alle, und besonders die großen Geber, haben ihre Projekte auf Nachhaltigkeit ausgelegt. Ganz im Sinne der UNO-Entwicklungsziele versuchen sie die Region strukturell aufzuwerten. Viele Soforthilfeprogramme liefen dagegen aus, weshalb die Geflüchteten auch im siebten Jahr des Syrienkrieges noch kämpfen müssen, um über die Runden zu kommen.
Ich hatte erwartet, dass die Versorgung mit dem Nötigsten inzwischen flächendeckend funktioniert, und wir von Avicenna uns auf maßgeschneiderte Hilfe konzentrieren können: Arztbesuche, einzelne Ausbesserungen der Camp-Infrastruktur, bedarfsgerechte Förderung der Kinder mit Schulmaterial oder Werkzeuge für die Erwachsenen, die sich auf den Feldern der Großgrundbesitzer verdingen. Manchmal zahlen die Landbesitzer Lohn, umgerechnet 1,20 € pro Stunde; manchmal geben sie nichts und erklären, das sei die Miete oder für Strom.

Wir formulierten Fragebögen für die Geflüchteten, ließen sie auf Arabisch übersetzen und fuhren mit gleich drei Dolmetscher/-innen in die Lager, um mit jeder Familie einzeln sprechen zu können. Wir wollten möglichst jeden Bewohner anhören und mit ihnen gemeinsam über die Hilfsmaßnahmen entscheiden. Zu unserer Überraschung ergab sich überall ein ähnliches Bild. Die Syrer wünschten sich vor allem Nahrungsmittel.
Zwar vergibt der UNHCR Essensmarken, die in vielen Supermärkten eingelöst werden können, doch diese Vouchers sind zum Tauschobjekt geworden. Sie sind das einzig Handelbare, das die Geflüchteten besitzen. Muss ein Kind zum Arzt, braucht die Mutter Hygieneartikel, ist der Mann krank und kann nicht arbeiten, zerreißt der Wind eine Zeltplane oder wächst der Sohn aus seinen Klamotten heraus, bleibt der Familie nur die Essensmarke als Zahlungsmittel. Die Camp-Bewohner baten um Essen, damit sie Marken sparen können. Denn wer weiß heute schon, was morgen passiert?
Unter diesen Eindrücken passten wir uns den Bedürfnissen an und lieferten Nahrungsmittelpakete in alle drei Camps, die wir besucht hatten. Die Pakete enthielten Reis, Linsen, Zucker, Salz, Öl, Tee, Nudeln, Datteln, Milchpulver, Fruchtsaft, Tomatensauce, Gewürze und noch mehr. Zusätzlich schnürten wir Hygienepäckchen für die Frauen mit Shampoo, Seife, Damenbinden und Hautcremes. Viele Kinder leiden in den trockenen Witterungsbedingungen und aufgrund von Mangelernährung an rissiger und entzündeter Haut.

In einem Lager, weit abgelegen und in Sichtweite zur syrischen Grenze, trafen wir auf mehrere schwangere Frauen, denen die Hitze zusetzte. Außerdem berichteten uns die Männer, dass ihnen die Mittagspause von der harten Feldarbeit kaum Erholung verschaffe, wenn es heiß ist. Wir entschieden gemeinsam, jeder Familie auch einen Ventilator mitzubringen. Unsere Testversuche ergaben, dass genug Strom im Camp ankommt, um einige Ventilatoren gleichzeitig laufen zu lassen. Mit dem Geld der Avicenna-Unterstützer bezahlten wir auch die Befüllung der Wassertanks. Zwei LKW-Ladungen verteilten die jordanischen Lieferanten auf die weißen, acht Kubikmeter fassenden Plastiktonnen.

 

Investition in die Menschen: Selbstversorgung und Bildung

Im Jaber-Camp von Abu Mudira leben ausschließlich Witwen und alleinstehende Frauen mit ihren Söhnen und Töchtern. Inzwischen, nach sechs Jahren im Camp, sind einzelne Kinder untereinander verheiratet, sodass dort auch Familien in der klassischen Konstellation Mutter-Vater-Kind leben, aber es sind die Frauen, die nach wir vor den Ton angeben. Ich weiß nicht, ob es an ihnen liegt, dass im Jaber-Camp eine ausgesprochen gemeinschaftlich orientierte Gesinnung vorherrscht. Aber während wir in anderen Camps auf Angst vor Konflikten stießen, wenn wir auf Gemeinschaftsgüter zu sprechen kamen, schlug Abu Mudira uns eine kleine Schafherde für das gesamte Lager vor. Unser Budget reichte für fünf gesunde, Milch gebende und noch junge Schafe.
Die Schafe können die Geflüchteten nur mit Milch versorgen, aber wir hoffen, den ersten Schritt in Richtung Subsistenzwirtschaft ermöglicht zu haben. Wir hoffen, dass andere Hilfsorganisationen anhand der kleinen Schafsherde sehen, wie gut diese Menschen zusammenarbeiten, und ihren Weg unterstützen. Eine Aufgabe zu haben, sich gebraucht zu fühlen, Verantwortung zu tragen und sein eigenes Wohl beeinflussen zu können, anstatt völlig von anderen abzuhängen, verleiht allen Menschen Würde und Selbstwertgefühl. Natürlich verdrängt die Not diese Idee oft und macht Konsumgüter überlebenswichtiger. Trotzdem bin ich froh über die nachhaltige Hilfe und sogar etwas stolz auf die Schafe.

In Al-Mafraq, in dessen Ballungsgebiert inzwischen knapp eine halbe Million Menschen lebt, betreibt die italienische NRO Vento di Terra gemeinsam mit der Jordan Relief Organisation eine Schule für ungefähr 300 Flüchtlingskinder. In zum Teil eigens angemieteten Bussen kommen die Kinder aller Altersklassen aus den Camps in die Stadt. Vento di Terra unterstützt die Schule seit zwei Jahren, verfügt über eine gesicherte Finanzierung für weitere zwei Jahre und bewirbt sich beim italienischen Außenministerium um eine Verlängerung des Projekts über 2020 hinaus. Das Budget von Vento di Terra reicht gerade so für die Deckung der laufenden Kosten. Die Lehrer wollen entlohnt, Strom und Wassergebühren entrichtet, die Miete bezahlt und die Tische und Stühle, Tafeln und Kreide, Hefte und Stifte gekauft werden.

Vor einigen Wochen erlitt das Abwassersystem der Bäder einen Totalschaden. Die Toiletten mussten geschlossen und die Ladenbesitzer im Erdgeschoss des Gebäudes beruhigt werden, da ihnen das Abwasser in die Verkaufsräume tropfte. Dank Eurer Spenden konnten wir die Bäder renovieren lassen. Die Rohre wurden repariert, die Toiletten, neben acht Plumpsklos auch eine zum Sitzen, und Wasserhähne erneuert und die Bäder grundgereinigt. Avicenna konnte so zu einer besseren Lernatmosphäre beitragen, dem Schulprojekt den Rücken stärken und ein Zeichen für die Bildung der Flüchtlingskinder aus der Region setzen.

 

Isoliert in der Millionenmetropole: Syrische Familien in Amman

Zu Beginn des Krieges, als Jordaniens Behörden den Zustrom der Schutzsuchenden noch nicht an der Grenze kontrollierten, schlugen sich Tausende Syrer bis nach Amman durch. Während die syrischen Bauern das Leben im Camp ertrugen, suchten vor allem die Städter ihr Glück in der Metropolregion. War es ihnen zunächst untersagt, Wohnung anzumieten, hob die jordanische Regierung das Verbot auf, als die Szenen des Elends in den Straßen und auf den Dächern über den Hügeln der Stadt unerträglich wurden.
Das Arbeitsverbot gilt dagegen weiterhin, sodass die syrischen Familien in den ärmeren Vierteln Ammans oft isoliert leben. Da die meisten Jordanier selbst zu wenig besitzen, um teilen zu können, hoffen viele Syrer auf die „Zakat“ reicher Spender aus den Golfstaaten. „Zakat“ ist eine der fünf Säulen des Islam, die die Gläubigen zur Unterstützung der Bedürftigen verpflichtet. Trotzdem müssen sich die meisten Familien verschulden, um ihren (Über-)lebensunterhalt zu bestreiten.

In vielen Fällen lässt allein die Gesundheit ein Leben in einem Wüstenlager nicht zu. Wir besuchten sechs syrische Haushalte in Amman und trafen Väter mit Krebs oder chronischen Rückenleiden, behinderte Jugendliche, verängstigte Kinder, die sich nachts einnässen, und traumatisierte Eltern, die die Alltagsbewältigung an ihre psychischen Grenzen führt. Außer einem Ramadan-Essenspaket mit Datteln, Tee und mehr, das jede der sechs Familien bekam, halfen wir gemäß den individuellen Bedürfnissen. Den größten Teil unserer Besorgungen machten Medikamente aus. Dazu bezahlten wir Mieten, kauften Schulmaterial und Spielzeug für die Kinder, Hygieneartikel, Haushaltsequipment, Kinderkleidung und Babynahrung.

Beim Teetrinken mit Abu Mudira und den anderen fühlte ich mich müde, aber glücklich. Wir konnten vielen Menschen helfen und wurden unsererseits großartig unterstützt. Doch schon als wir im Auto auf dem Rückweg in Richtung Amman saßen, entdeckte ich abseits einer eher verlassenen Straße ein weiteres kleines Flüchtlingslager. In der Wand des einzigen Zeltes, das ich im Detail erkennen konnte, klaffte ein riesiges Loch. Ich dachte: Für uns alle gibt es noch viel zu tun.

Jan Menke